Von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen. (Noam Chomsky)
Wie erkläre ich anschaulich das Prinzip der Rekursion? Vor diesem Problem
stand ich in einer meiner Einführungsveranstaltungen in die Linguistik.
Ich experimentierte mit verschiedenen Mustern von Symbolverkettungen, Reihen
bestehend aus unterschiedlichen Anordnungen von Quadraten, Kreisen, Herzen usw.
Ein Muster fand ich besonders hübsch, auch weil es so einfach war, nämlich
in der Mitte ein Kreis, an welchen sich links und rechts bei jedem Rekursionsschritt
Quadrate anschließen, so dass sich eine im Prinzip unendliche Reihe von
Quadraten ergibt, halbiert durch einen Kreis in der Mitte. Erst nachdem ich
mich verstärkt mit Palindromen beschäftigte, fiel mir auf, dass es
sich dabei um eine Erzeugungsregel für ein im Prinzip unendlich langes
Palindrom handelt, von vorn und hinten gleich zu lesen, eine Symbolkette an
einer Achse gespiegelt.
Eine derartige Spiegelung liegt auch der Jahreszahl 2002 zugrunde, dem Jahr,
das wir gerade durchlaufen. Und da die nächste palindromische Jahreszahl
erst wieder im Jahr 2112 zu erwarten ist, lag es nahe, aus aktuellem Anlass
ein Palindrom, basierend auf den Ziffern 2 und 0, zu schreiben. Als Interventionen
fungieren palindromische Einstreuungen von Wörtern, Sätzen und Phrasen,
von denen einige dem Palindromgedicht Bon
Soir, Rio Snob! von Jost Gippert entnommen sind.
Durchläuft man die Rekursionsschritte rückwärts, ergibt sich
das Negativ zur Palindromgenerierung. Entsteht das 2002-Palindrom aus einem
imaginären Mittelpunkt heraus und wuchert seitlich nach links und rechts
ins Unendliche hinein, so fressen sich in das Palindrom bei einer Rückwärtsbewegung
Löcher, kontinuierlich wachsende, alles verschlingende Löcher. Vegetationspunkt
und Implosion, Wuchern und Verschwinden oder eben 2002.
Ellen Fricke, in: Physiognomien des Lautens, Programmheft, Juni 2002
Ellen Fricke, Vorstudie zu zweitausendzwei