Programm der Konzertreihe Physiognomien des Lautens
Ensemble Zwischentöne und Gäste, Berlin, 15. Juni, 4. Juli und 14. Juli 2002
Dichter und Komponisten wie Peter Ablinger, Antoine Beuger, Michael Hirsch,
Klaus Lang, Georg Nussbaumer, Gerhard Rühm und Wolfgang von Schweinitz
lassen in dieser Konzertreihe nicht nur das Ensemble Zwischentöne schnalzen,
ächzen, wispern, juchzen, summen, blöken, quaken, singen sondern
einige von ihnen agieren, sprechen, lesen auch in von ihnen selbst gestalteten
Lese-, Sprech- und Performanceakten.
Ausgehend von der Sprache als Struktur, ihren Realisationsformen im Sprechen
und dessen Ausloten in seinen instrumentalen Möglichkeiten im ersten Konzert
der Reihe Dort in der Dunkelheit des Kehlkopfs, wird im zweiten
Konzert, Eine Linie ziehen, die immaterielle Idee der Linie, der
Schrift durchschritten, hinführend zu vorsprachlichen Naturgesängen
im dritten Konzert: lautlichen Physiognomien von Fröschen, Rotbauchunken,
Birken, Buchen und anderen organischen und anorganischen Materialien.
In unserer letztjährigen Berliner Konzertreihe Musik für den Blick nach draußen bewegten wir uns zwischen Klangkunst und Musik. Dieses Jahr gilt unsere Aufmerksamkeit dem Ausloten des Bereichs zwischen dem Sprachlichen und dem Musikalischen.
Jedes einzelne Konzert, das ist das grundlegende Konzept der Konzertreihe
Physiognomien des Lautens, besteht in dem Nebeneinander von Leseakten
der beteiligten Komponisten und Komponistinnen und der Aufführung ihrer
Musik. Diese Leseakte sollen, so lautet die Aufforderung, selbst Kunst sein
und in der Regel nicht länger als zehn Minuten dauern. Thematisch sind
sie grundsätzlich frei und fungieren im Rahmen der Konzertreihe eher als
Interventionen. Welche Form der jeweilige Akt annimmt, ob Leseakt, Schreibakt
usw. bleibt offen. Bei Peter Ablinger und Klaus Lang etwa handelt es sich um
von ihnen verfasste neue Texte, die auch von ihnen selbst als Autoren vorgetragen
werden. Gerhard Rühm wird in einem dreiviertelstündigen Rezitativ
am ersten Konzerttag seine seit langem nicht mehr aufgeführte abhandlung
über das weltall (1964/66) vortragen. Die Basis des Stücks
ist ein populärwissenschaftlicher astronomischer Vortragstext, an dem zunächst
kleine, in weiterer Folge immer gravierendere Eingriffe vorgenommen werden,
bis am Ende des Textes nur mehr der Vokal e als häufigstes
Phonem der deutschen Sprache übrig bleibt: die sprache ist, adäquat
der entwicklung des weltalls, gleichsam den wärmetod gestorben, schreibt
Rühm in der Vorbemerkung. (aus: Gerhard Rühm. Dossier. Die Buchreihe
über österreichische Autoren. Band 15. 1999, S. 31).
Was ist an diesen Akten neu und interessant? Im Fall der Leseakte sind es zum
Beispiel die nicht in der literarischen Tradition verorteten Gestaltungsformen
eines Textes, die Beziehung zwischen Komposition von Musik und Gestaltung von
Text bei ein und derselben Person sowie das Hervortreten der Persönlichkeit
des Komponisten als sich Äußernder/Sprechender und die Unterschiedlichkeit
der sich ergebenden Äußerungen durch die verschiedenen an den Akten
beteiligten Personen.
Thematisch gliedert sich die Konzertreihe in drei Teile, angefangen bei vorsprachlichen Formen des Lautens (Georg Nussbaumer, Wolfgang von Schweinitz) über eine durch die Vorstellung des Schreibens beeinflusste Idee der Linie (Antoine Beuger, Rainer Killius, Ellen Fricke, Robin Hayward, Bernhard Lang, Klaus Lang, Dieter Schnebel) bis hin zu Stücken, die eher von der Idee des Lesens bzw. der sprachlich/stimmlichen Artikulation ausgehen (Peter Ablinger, Michael Hirsch, Josef Anton Riedl, Harry Partch, Gerhard Rühm).
Gibt es Ausgangspunkte für die kompositorische Thematisierung des Verhältnisses von Sprache und Musik jenseits der Gemeinsamkeit des bloß materiell Klanglichen? Die Aufführungen von lautpoetischen und lautmusikalischen Werken der letzten Jahre basieren vor allem auf dieser Gemeinsamkeit. Wir möchten uns mit der Veranstaltungsreihe Physiognomien des Lautens dem Verhältnis von Sprache und Musik gewissermaßen von der Peripherie her nähern und von dort aus weitere Perspektiven auf den Themenkomplex Sprache und Musik gewinnen.
Dies geschieht zum einen durch eine thematische Akzentverschiebung: Im dritten Konzert Naturgesänge liegt der Akzent auf dem Vorsprachlichen, z. B. auf nichtmenschlichen Artikulationsformen wie den Frosch- und Unkengesängen in der livedigitalen Klangeinspielung von Wolfgang von Schweinitz sowie dem durch die Spieler erzeugten Baumrauschen bei Georg Nussbaumer in dem durch achtundzwanzig, bis zu vier Meter hohe Äste in einen Wald verwandelten Aktionsraum des Hamburger Bahnhofs. Im zweiten Konzert Eine Linie ziehen verschiebt sich der Akzent vom Lautlichen auf das Schriftliche. Klaus Lang wird seinem Zyklus der weg des prinzen, dessen ersten zwei Teile das Ensemble Zwischentöne in den letzten Jahren uraufgeführt hat, ein drittes Werk hinzufügen, welches das den bisherigen Stücken zugrundeliegende lineare Text-Substrat kompositorisch thematisiert.
Zum anderen wird der strukturelle gegenüber dem materiellen Aspekt betont. Nimmt man z. B. die schriftliche Artikulation, dann bedeutet dies gerade nicht die Reduzierung auf Klänge wie z. B. Schreibgeräusche, sondern kompositorische Ideen und Realisierungen entstehen aus mit dem Aspekt des Schriftlichen verbundenen Vorstellungen, die nicht notwendigerweise z. B. eine graphische Notation implizieren. Ein Beispiel für diese Vorgehensweise wäre etwa Bernhard Langs Flötensolo Schrift 1.2.
Ellen Fricke, Juni 2002
> Physiognomien des Lautens I & II Dort in der Dunkelheit des Kehlkopfs
Gäste: Gerhard Rühm und Monika Lichtenfeld Sprechen, Marc Sabat
Adapted Viola
I: Ballhaus Naunynstraße Berlin, Samstag, 15. Juni 2002, 20 Uhr
Peter Ablinger: Studien nach der Natur (1997, 2002) 10 kleine Stücke
für 6 Stimmen, Uraufführung
Leseakt von und mit Gerhard Rühm: abhandlung über das weltall
(1964/66)
II: Ballhaus Naunynstraße Berlin, Samstag, 15. Juni. 2002, 21.30 Uhr
Gerhard Rühm: zeitung stets aktuelles simultanstück
(1962) für Ensemble
Josef Anton Riedl: leill eist, veicht seivt:
(1977/79) 2 Gedichte für Sprecher oder Gedicht für 2 Sprecher
Harry Partch: Lyrics by Li Po (1930-33) für Bariton und Adapted
Viola
Michael Hirsch: 2. Studie zu Das Konvolut, Vol. 2 (2002)
für 2 Stimmen, Flöte, Violine, Klavier, 2 Schlagzeuger und Zuspielung,
UA
Gerhard Rühm: zwei lautgedichte (2000)
Gerhard Rühm: sprechduette nach deutschen volksliedern (1987)
> Physiognomien des Lautens III & IV Eine Linie ziehen
Gäste: Robin Hayward Tuba, Klaus Lang Sprechen, Natalia Pschenitschnikowa
Flöte, Chiyoko Szlavnics Altsaxophon
III: Musikinstrumenten-Museum Berlin, Donnerstag, 4. Juli 2002, 19 Uhr
Leseakt von und mit Klaus Lang: fische.sterne. (2001)
Antoine Beuger: landscapes of absence (2): als teilte sich das meer
(2002) für Sprechstimme und Tuba, Uraufführung
IV: Musikinstrumenten-Museum Berlin, Donnerstag, 4. Juli 2002, 21.30 Uhr
Dieter Schnebel: tutti punktuell / zugleich, aus: Maulwerke für
Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte (1968-74) für Ensemble
Rainer Killius: Verwehungen I: lass dy punct lawffen (2002) für
Sprechstimme, Uraufführung
Tubasprechakt von und mit Robin Hayward: Self-Portrait with Phonograph
(2002) für mit einem Phonographen verbundene Tuba, Uraufführung
Ellen Fricke: zweitausendzwei (2002) für Stimme, Uraufführung
Bernhard Lang: Schrift 1.2 (1998) für Flöte solo
Klaus Lang: der weg des prinzen III / frösche.berge. (2002) für
Frauenstimme, Viola, Akkordeon, Flöte, Saxophon, Vibraphon, Plastikflaschen,
Uraufführung
> Physiognomien des Lautens V & VI Naturgesänge
Gäste: Robin Hayward Tuba, Wolfgang von Schweinitz Elektronik
V: Hamburger Bahnhof Museum für Gegenwart Berlin, Sonntag, 14. Juli
2002, 19 Uhr
Leseakt von und mit Peter Ablinger: weiß/weißlich 11b (seit
1994), Prosa
Performanceakt von und mit Wolfgang von Schweinitz: Naturgesang mit Fröschen
und Rotbauchunken (2000, 2002) op. 41, livedigitale Klangeinspielung, öffentliche
Uraufführung
VI: Hamburger Bahnhof Museum für Gegenwart Berlin, Sonntag, 14.
Juli 2002, 21 Uhr
Georg Nussbaumer: Märchen vom Lied vom Wald (2002) 6 Spieler mit
Zugsägen und Rosshaaren und einer Äste-Installation, Videoprojektion/Dämmerung,
Hieronymus-Bosch-Graphik, Tuba/Fleischwolf/Zunge, Uraufführung
Konzept und Programm: Ellen Fricke
Ensembleleitung: Peter Ablinger
Organisation: Ellen Fricke, Volker Schindel. Dank an Maarten Voss.
Wir danken ferner Volker Bartz, Thomas Ertelt, Gabriele Knapstein, Hans-Reinhard
Wirth, dem Elektronischen
Studio der TU Berlin und der Musikschule
Friedrichshain-Kreuzberg.
Karten an der Abendkasse und unter 030-28040450, Tageskarte 9 / 7 Eur, Gesamtkarte
21 / 15 Eur.
Ballhaus
Naunynstraße, Naunynstr. 27, 10997 Berlin
Musikinstrumenten-Museum
Berlin, Tiergartenstr. 1, 10785 Berlin
Hamburger Bahnhof Museum
für Gegenwart Berlin, Invalidenstr. 50/51, 10557 Berlin
In Zusammenarbeit mit dem Ballhaus Naunynstraße, dem Staatlichen Institut
für Musikforschung, Preußischer Kulturbesitz und dem Hamburger Bahnhof
Museum für Gegenwart Berlin.
Mit freundlicher Unterstützung der Initiative
Neue Musik Berlin, des Kulturforums der Österreichischen
Botschaft Berlin, des Deutschen
Musikrats und des Vereins der Freunde der Nationalgalerie.
Veranstaltet vom Ensemble Zwischentöne, c/o Ellen Fricke, Freiligrathstr. 2, D-10967 Berlin.
Hieronymus Bosch: Der Wald hat Ohren, das Feld hat Augen, Federzeichnung, Kupferstichkabinett Berlin