Margarete Zander, Deutschlandfunk, Atelier neuer Musik, 6. Januar 2007


Margarete Zander: [...] In den Bereich der Lautpoesie möchte Ellen Fricke ihr Werk nicht rücken.

Ellen Fricke: Ich würde nicht sagen, daß es Lautpoesie ist. Ich habe bewußt den Terminus „Sprachkomposition“ gewählt, weil es etwas ist, was nur in einer Konzertsituation funktioniert. Es ist kein Text, den man lesen könnte. Es ist eine Komposition, weil es sehr streng notiert ist, in phonetischer Transkription. Deshalb gibt es auch Schwierigkeiten für einen normalen Leser, diesen Text zu lesen. Es ist auch deshalb keine Lautpoesie, weil – so experimentell Lautpoesie auch immer ist – es geht dort immer um die Rede. Mir geht es aber darum, das der Rede oder dem Sprechen zugrundeliegende Sprachsystem sinnlich erfahrbar zu machen, es hörbar zu machen. Und im Grunde genommen – was ich dort komponiere, sind sprachliche Strukturen oder das sprachliche System als musikalische Zeitgestalt; darum geht es mir. Und das ist etwas völlig anderes.

Margarete Zander: Ellen Fricke ist Schauspielerin, Autorin, Performerin und Sprachwissenschaftlerin. Den Impuls zu „Babel 1“ gab ihr eine Studie des Sprachforschers Roman Jakobson.

Ellen Fricke: Also erstmal das Buch „Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze“ – es ist ein ganz kleines Büchlein – das hat mich sehr fasziniert, als ich begonnen habe, Linguistik zu studieren. Das war für mich so eine Art Aha-Erlebnis. Das Buch ist schon sehr alt, es ist 1944 erschienen, und was Jakobson dort macht, ist, daß er im Grunde genommen den Lauterwerb des Kindes, den Sprachverlust bei sprachgestörten Aphasikern und den Aufbau der Phonemsysteme der Sprachen der Welt in einen Zusammenhang bringt. Nehmen wir mal den Kontrast zwischen „l“ und „r“: Kinder erwerben ihn relativ spät, Aphasiker verlieren ihn relativ früh, und er gehört eher zur Peripherie und nicht zum Kernbestand der Lautsysteme der Sprachen der Welt. Zum Beispiel Chinesen oder Japaner haben diesen Kontrast nicht. Wir kennen ja gut diese Witze oder diese Karikaturen von Japanern und Chinesen, wie sie sprechen, wo man sieht, dieser Kontrast zwischen „l“ und „r“, zwischen „Lot“ und „rot“, diese bedeutungsunterscheidende Funktion, die wird dort nicht gemacht. Er ist einfach jemand, der scheinbar weit auseinanderliegende Bereiche zusammengebracht hat. Wieweit das naturalistisch jetzt wirklich so funktioniert, ist eine ganz andere Frage. Und ich hab jetzt versucht, etwas scheinbar weit Auseinanderliegendes zusammen zu bringen. Nämlich auf der einen Seite Sprache als Musik und dann die Konzepte oder Regularitäten, die Roman Jakobson in seinem Buch vertritt. Ich mache dort keine Wissenschaft, es ist kein wissenschaftlicher Vortrag, sondern es hat mich nur interessiert, in wieweit funktioniert denn das ästhetisch, kann man das ästhetisch nutzbar machen. Das war einfach so eine Art Aha-Erlebnis, daß ich gemerkt habe, das kann man zum Klingen bringen.

Margarete Zander: Die Sprachkomposition von Ellen Fricke wurde aufgeführt von Delia Angiolini, Natalia Pschenitschnikowa und der Komponistin selbst. Sie sieht sich übrigens im Bereich der Konzeptkunst. Faszinierend wie man Wissenschaft und Entertainment durch die Freiheit der Kunst miteinander ins Spiel bringen kann. [...]